Auf dem Friedhof
Es ist Herbst. Der 13. Oktober. Ich laufe, den mit bunten Blättern übersäten Friedhofsweg entlang. In meinem Korb liegt ein kleiner Blumenstrauß. Heute hätte er Geburtstag, der Mann dem ich vor vielen Jahren das Ja-Wort für alle Zeiten gegeben habe. Das Schicksal wollte es anders und schenkte uns nur sieben Jahre. Wie jedes Jahr an diesem Tag besuche ich sein Grab, lege Blumen und wie immer eine kleine Tüte Gummibären auf den Grabstein. Happy Birthday mein Liebster. Ich lege meine flache Hand auf den kühlen Marmor und flüstere:
"Irgendwann bin ich bei dir und wir feiern wieder zusammen. Irgendwann."
Etwas später gehe ich langsam den Weg zurück. Mein Blick wandert über diesen ruhigen Ort mit den vielen Steinen, Blumen, Kerzen. Wie viele Tränen sind hier vergossen worden. So viele Namen, so viel Trauer. Und plötzlich kommt mein Blick auf einem flachen, grauen Grabstein zum Halten. Johann und Maria Malik. Ich bleibe stehen und denke …, dass ich diesen beiden Menschen noch einmal begegne! Wie lange ist es her?
Ich setze mich auf die alte Bank, welche neben dem Grab steht und meine Gedanken schweifen zurück. Johann und Maria Malik ... genau diese Geschichte möchte ich erzählen.
Schwester Ellen steckt ihren Kopf zur Tür herein ..." Frau Graf, das neue Ehepaar ist da. Herr und Frau Malik." Ich nicke ihr zu und sage: „Ich komme sofort." Auf meinem Schreibtisch liegt schon die neue Zugangsakte, welche ich jetzt nehme und mich von meinem Büro auf den Weg in Zimmer 109 begebe. Frau Malik ist 79 Jahre. Sie liegt auf dem Bett und singt. Auf ihrem Aufnahmeblatt stehen viele Diagnosen. Auch Morbus Alzheimer. Herr Malik steht am Fenster und schaut in den Garten unseres Altenzentrums. Sein Blick ist undurchdringlich. Außer Diabetes und einigen Knieoperationen steht nichts unter Diagnosen. Er ist 82 Jahre alt. Im Zimmer sind noch zwei Frauen. Eine von ihnen ruft ihn mit den Worten: "Papa ... wir haben alles in die Schränke geräumt! Jetzt fahren wir nach Hause und kommen am Wochenende wieder." Sie verabschieeden sich und verlassen das Zimmer.
Ich stelle mich bei Herr Malik vor, sage ihm, dass ich in diesem Haus Pflegedienstleiterin bin und mit ihm und seiner Frau das Aufnahmegespräch führen möchte.
Er ist einverstanden. Während des Gesprächs stelle ich ihm auch Fragen zu seinen Kindern. Sein Blick wird dunkler und verschlossen. Er hat keine, antwortet er mir. Ich schaue ihn fragend an. Sein Blick ruht jetzt auf seiner Frau und er sagt: "Es sind ihre Töchter!"
Ich höre die Ablehnung in seiner Stimme und frage nicht weiter nach. Der Einzug in ein Pflegeheim ist schwer genug, ich möchte den alten Mann für heute nicht noch mehr belasten. Nach dem Gespräch verabschiede ich mich und erkläre ihm, dass Schwester Ellen für ihn und seine Frau die Bezugsperson sein wird.
Herr und Frau Malik erweissen sich in den nächsten Wochen, als etwas schwierige Bewohner. Es gibt immer wieder Probleme mit Frau Malik, welche teilweise mobil, jedoch sehr verwirrt ist. Oft muss das Pflegepersonal ins Zimmer laufen, weil die alte Frau unter das Bett von Herr Malik kriecht und dort nur unter lautem Geschrei vorgeholt werden kann. Herr Malik steht hilflos daneben und weint dann. Ich biete ihm zwei Einzelzimmer an, doch mit entsetztem Blick verweigert er diese. Schwester Ellen gibt sich viel Mühe mit den beiden und kommt oft in mein Büro um sich Rat zu holen. Sie erzählt mir, dass die Töchter sich sehr liebevoll um die beiden kümmern, wobei Herr Malik auf beide ablehnend reagiert, sogar oft das Zimmer verlässt, wenn diese zu Besuch kommen.
Ich verspreche ihr, mich demnächst mit den Töchtern eingehender zu unterhalten. Doch die viele Arbeit in unserem Haus mit 109 Bewohnern lässt dieses Gespräch vorab nicht zu. Zwar läuft Herr Malik oft an meinem Büro vorbei, doch ich verschiebe das Gespräch Tag für Tag.
Wochen später geht es Frau Malik so schlecht, dass sie am späten Abend ins Krankenhaus gebracht werden muss. Ich bin noch im Haus und gehe in ihr Zimmer. Der alte Mann sitzt auf ihrem leeren Bett. Er lässt es zu, dass ich mich neben ihn setze. Ich sage ihm, dass seine Töchter bei seiner Frau im Krankenhaus sind.
Er nickt und nach einem langen Blick auf mich fragt er: „Haben Sie russische Vorfahren?" Ich bin erstaunt und verneine. Und plötzlich fängt der Mann, etwas zusammenhanglos und mit stockenden Worten, an zu reden.
"Sie haben mich am ersten Tag schon, an eine Frau erinnert. Sie hieß Oxana und war als einzige Frau in diesem Lager. Ich glaube wir haben sie alle geliebt. Es war nicht gestattet, sie anzuschauen. In den elf Jahren Gefangenschaft haben diese Schweine einige Kameraden wegen eines Blickes auf sie, hingerichtet. Einmal hat sie mich angelächelt. Einmal in elf Jahren. Manchmal glaube ich, deshalb hab ich überlebt. Sie war die einzige Frau dort und hat im Lagerbüro gearbeitet. Sie hatte Ihre Augen und auch Ihre langen, dunklen Locken und war sehr schön.
Nach elf Jahren Gefangenschaft, bin ich als einer der letzten Heimkehrer entlassen worden. Am 16. Januar 1956 kam ich mit meinen Kameraden, mit dem Zug am Bahnhof Herleshausen an. Ich habe meine Frau Maria immer geliebt und sie in all den Jahren sehr vermisst. Die Freude, zu ihr nach Hause zu können, war unbeschreiblich. Wie soll man in Worte fassen, was man da fühlt. Ich bin ein einfacher Mann und es fällt mir schwer mich auszudrücken. Ich war glücklich und mein Blick suchte die Menschenmassen nach ihr ab. Suchte nach blondem Haar. Und dann sah ich sie zwischen den vielen Menschen. Sah ihr Gesicht und ihren ängstlichen Blick. An ihrer Hand hatte sie ein Kind, ein blasses kleines Mädchen, etwa sechs Jahre alt. Und bevor ich es verstehen konnte, sah ich auch, dass die Frau, meine Frau, hochschwanger war."
Herr Malik schweigt jetzt und seine Hände streichen etwas verlegen über die zerwühlte Bettdecke seiner Frau. In meinem Kopf versuche ich Worte zu finden, um ihn zu trösten. Aber es fällt mir schwer. Deshalb die ablehnende Haltung. Ich frage ihn, ob er die Töchter immer so ignoriert hat, wie er es jetzt tut. Er schaut nicht zu mir hoch, sein Kopf ist gesenkt, sein Blick nach unten gerichtet. Seine Antwort ist ja.
Die Frage, welche ich ihm jetzt stelle, überrascht ihn sehr. "Wenn es keine Bestrafung gegeben hätte ... damals in Russland, ... hätten Sie mehr gewollt von dieser Frau, von Oxana?"
"Ja, antwortet er, … aber es gab keine Chance. Ich habe meine Frau all die Jahre verurteilt für etwas, was ich selbst getan hätte, wenn die Chance dazu da gewesen wäre. Jetzt habe ich das erste Mal in meinem Leben Angst, Maria zu verlieren. Und ich habe Angst, dass die Mädchen dann nicht mehr kommen werden.“
Umständlich kramt er ein Taschentuch aus der Hose und wischt sich übers Gesicht. „Ich weiß schon lange, dass ich ihnen viel Unrecht angetan habe. Aber ich schäme mich, das macht alles so schwer.“
Herr Malik wendet sich ab und beginnt das Bett seiner Frau zu richten. Ich verstehe, dass er nicht mehr sprechen möchte, und verlasse sein Zimmer.
In meinem Büro setze ich mich noch einmal hin und überlege. Ich bin ziemlich erregt über dieses kurze Gespräch. Was war dieser Mann für ein Egoist gewesen. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, klopft es vorsichtig an der Tür und Herr Malik betritt mein Büro. Er bleibt vor meinem Tisch stehen und sagt: "Ich will es meiner Frau ja verzeihen, aber es ist zu spät, sie lebt in einer anderen Welt, sie versteht mich nicht mehr." Ich schaue ihm in die noch immer geröteten Augen und sage: „Richtig, das ist wohl zu spät ... aber die Möglichkeit, dass Sie bei ihren Töchtern um Verzeihung bitten, die besteht noch."
Herr Malik dreht sich langsam um und geht aus dem Zimmer.Sein Gang ist schleppend und müde. Einerseits tut er mir leid und anderseits bin ich ungehalten über sein Verhalten all die Jahre. Seine Frau und die Töchter hatten sicher viel Kummer deswegen.
Ich frage mich, ob er es schafft, morgen über seinen Schatten zu springen. Werden die Töchter bereit sein, ihm zu verzeihen?
Viele Gedanken kreisen in meinem Kopf. Ich stelle mir das Lager vor, die Gefangenen und deren heimliche Blicke zur schönen Oxana. Und ich sehe die Bilder, welche man aus den Medien kennt. Exekutioskommandos. Furchtbar. Und ich sehe die kleinen Mädchen, wie sie zu ihrem Vater hochschauen und sein Blick sich abwendet.
Es ist spät und ich fahre nach Hause, doch die Geschichte geht mir den ganzen Abend nicht aus dem Kopf.
Am nächsten Tag komme ich erst gegen Mittag an die Arbeit. In der kleinen Cafeteria hole ich mir einen Milchkaffee und sehe dann an dem kleinen Ecktisch Herr Malik mit seinen Töchtern sitzen. Ich gehe zu ihnen, um sie zu begrüßen und nach dem Befinden von Maria Malik zu fragen. Ich sehe, dass alle drei weinen und bekommen ein ungutes Gefühl.
Frau Malik wird doch nicht ...? Ich frage behutsam nach. Herr Malik setzt zum Sprechen an, doch seine Stimme versagt ihm. Die jüngere Tochter lächelt mich an und sagt mir schniefend, dass es ihrer Mama schon viel besser geht.
Ich schaue die drei erstaunt an und frage mich, warum sie denn weinen.
Herr Malik legt seine Hand auf die der Tochter und selben Moment verstehe ich die Situation.Ich verabschiede mich schnell von der Familie. An der Tür der Cafeteria drehe ich mich noch einmal zu ihnen um, möchte diesen schönen Moment noch einmal geniessen.
Herr Malik rührt seiner älteren Tochter gerade den Kaffee um und lächelt jetzt. Eine so rührendere Geste hab ich lange nicht gesehen… im wahrsten Sinne des Wortes. Frau Malik kommt nicht mehr in unser Haus zurück, sie stirbt einige Wochen später an einer Lungenentzündung. Die beiden Töchter haben ihren Vater weiterhin regelmässig besucht.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Friedhofsbank gesessen habe. Mir wird kalt und ich laufe in die Friedhofsgärtnerei und hole noch ein paar Blumen für das Ehepaar Johann und Maria Malik. Auf dem Nachhauseweg nehme ich mir vor, den beiden jedes Jahr am 13. Oktober Blumen mitzunehmen. Das vergesse ich ganz sicher nicht.
"Irgendwann bin ich bei dir und wir feiern wieder zusammen. Irgendwann."
Etwas später gehe ich langsam den Weg zurück. Mein Blick wandert über diesen ruhigen Ort mit den vielen Steinen, Blumen, Kerzen. Wie viele Tränen sind hier vergossen worden. So viele Namen, so viel Trauer. Und plötzlich kommt mein Blick auf einem flachen, grauen Grabstein zum Halten. Johann und Maria Malik. Ich bleibe stehen und denke …, dass ich diesen beiden Menschen noch einmal begegne! Wie lange ist es her?
Ich setze mich auf die alte Bank, welche neben dem Grab steht und meine Gedanken schweifen zurück. Johann und Maria Malik ... genau diese Geschichte möchte ich erzählen.
Schwester Ellen steckt ihren Kopf zur Tür herein ..." Frau Graf, das neue Ehepaar ist da. Herr und Frau Malik." Ich nicke ihr zu und sage: „Ich komme sofort." Auf meinem Schreibtisch liegt schon die neue Zugangsakte, welche ich jetzt nehme und mich von meinem Büro auf den Weg in Zimmer 109 begebe. Frau Malik ist 79 Jahre. Sie liegt auf dem Bett und singt. Auf ihrem Aufnahmeblatt stehen viele Diagnosen. Auch Morbus Alzheimer. Herr Malik steht am Fenster und schaut in den Garten unseres Altenzentrums. Sein Blick ist undurchdringlich. Außer Diabetes und einigen Knieoperationen steht nichts unter Diagnosen. Er ist 82 Jahre alt. Im Zimmer sind noch zwei Frauen. Eine von ihnen ruft ihn mit den Worten: "Papa ... wir haben alles in die Schränke geräumt! Jetzt fahren wir nach Hause und kommen am Wochenende wieder." Sie verabschieeden sich und verlassen das Zimmer.
Ich stelle mich bei Herr Malik vor, sage ihm, dass ich in diesem Haus Pflegedienstleiterin bin und mit ihm und seiner Frau das Aufnahmegespräch führen möchte.
Er ist einverstanden. Während des Gesprächs stelle ich ihm auch Fragen zu seinen Kindern. Sein Blick wird dunkler und verschlossen. Er hat keine, antwortet er mir. Ich schaue ihn fragend an. Sein Blick ruht jetzt auf seiner Frau und er sagt: "Es sind ihre Töchter!"
Ich höre die Ablehnung in seiner Stimme und frage nicht weiter nach. Der Einzug in ein Pflegeheim ist schwer genug, ich möchte den alten Mann für heute nicht noch mehr belasten. Nach dem Gespräch verabschiede ich mich und erkläre ihm, dass Schwester Ellen für ihn und seine Frau die Bezugsperson sein wird.
Herr und Frau Malik erweissen sich in den nächsten Wochen, als etwas schwierige Bewohner. Es gibt immer wieder Probleme mit Frau Malik, welche teilweise mobil, jedoch sehr verwirrt ist. Oft muss das Pflegepersonal ins Zimmer laufen, weil die alte Frau unter das Bett von Herr Malik kriecht und dort nur unter lautem Geschrei vorgeholt werden kann. Herr Malik steht hilflos daneben und weint dann. Ich biete ihm zwei Einzelzimmer an, doch mit entsetztem Blick verweigert er diese. Schwester Ellen gibt sich viel Mühe mit den beiden und kommt oft in mein Büro um sich Rat zu holen. Sie erzählt mir, dass die Töchter sich sehr liebevoll um die beiden kümmern, wobei Herr Malik auf beide ablehnend reagiert, sogar oft das Zimmer verlässt, wenn diese zu Besuch kommen.
Ich verspreche ihr, mich demnächst mit den Töchtern eingehender zu unterhalten. Doch die viele Arbeit in unserem Haus mit 109 Bewohnern lässt dieses Gespräch vorab nicht zu. Zwar läuft Herr Malik oft an meinem Büro vorbei, doch ich verschiebe das Gespräch Tag für Tag.
Wochen später geht es Frau Malik so schlecht, dass sie am späten Abend ins Krankenhaus gebracht werden muss. Ich bin noch im Haus und gehe in ihr Zimmer. Der alte Mann sitzt auf ihrem leeren Bett. Er lässt es zu, dass ich mich neben ihn setze. Ich sage ihm, dass seine Töchter bei seiner Frau im Krankenhaus sind.
Er nickt und nach einem langen Blick auf mich fragt er: „Haben Sie russische Vorfahren?" Ich bin erstaunt und verneine. Und plötzlich fängt der Mann, etwas zusammenhanglos und mit stockenden Worten, an zu reden.
"Sie haben mich am ersten Tag schon, an eine Frau erinnert. Sie hieß Oxana und war als einzige Frau in diesem Lager. Ich glaube wir haben sie alle geliebt. Es war nicht gestattet, sie anzuschauen. In den elf Jahren Gefangenschaft haben diese Schweine einige Kameraden wegen eines Blickes auf sie, hingerichtet. Einmal hat sie mich angelächelt. Einmal in elf Jahren. Manchmal glaube ich, deshalb hab ich überlebt. Sie war die einzige Frau dort und hat im Lagerbüro gearbeitet. Sie hatte Ihre Augen und auch Ihre langen, dunklen Locken und war sehr schön.
Nach elf Jahren Gefangenschaft, bin ich als einer der letzten Heimkehrer entlassen worden. Am 16. Januar 1956 kam ich mit meinen Kameraden, mit dem Zug am Bahnhof Herleshausen an. Ich habe meine Frau Maria immer geliebt und sie in all den Jahren sehr vermisst. Die Freude, zu ihr nach Hause zu können, war unbeschreiblich. Wie soll man in Worte fassen, was man da fühlt. Ich bin ein einfacher Mann und es fällt mir schwer mich auszudrücken. Ich war glücklich und mein Blick suchte die Menschenmassen nach ihr ab. Suchte nach blondem Haar. Und dann sah ich sie zwischen den vielen Menschen. Sah ihr Gesicht und ihren ängstlichen Blick. An ihrer Hand hatte sie ein Kind, ein blasses kleines Mädchen, etwa sechs Jahre alt. Und bevor ich es verstehen konnte, sah ich auch, dass die Frau, meine Frau, hochschwanger war."
Herr Malik schweigt jetzt und seine Hände streichen etwas verlegen über die zerwühlte Bettdecke seiner Frau. In meinem Kopf versuche ich Worte zu finden, um ihn zu trösten. Aber es fällt mir schwer. Deshalb die ablehnende Haltung. Ich frage ihn, ob er die Töchter immer so ignoriert hat, wie er es jetzt tut. Er schaut nicht zu mir hoch, sein Kopf ist gesenkt, sein Blick nach unten gerichtet. Seine Antwort ist ja.
Die Frage, welche ich ihm jetzt stelle, überrascht ihn sehr. "Wenn es keine Bestrafung gegeben hätte ... damals in Russland, ... hätten Sie mehr gewollt von dieser Frau, von Oxana?"
"Ja, antwortet er, … aber es gab keine Chance. Ich habe meine Frau all die Jahre verurteilt für etwas, was ich selbst getan hätte, wenn die Chance dazu da gewesen wäre. Jetzt habe ich das erste Mal in meinem Leben Angst, Maria zu verlieren. Und ich habe Angst, dass die Mädchen dann nicht mehr kommen werden.“
Umständlich kramt er ein Taschentuch aus der Hose und wischt sich übers Gesicht. „Ich weiß schon lange, dass ich ihnen viel Unrecht angetan habe. Aber ich schäme mich, das macht alles so schwer.“
Herr Malik wendet sich ab und beginnt das Bett seiner Frau zu richten. Ich verstehe, dass er nicht mehr sprechen möchte, und verlasse sein Zimmer.
In meinem Büro setze ich mich noch einmal hin und überlege. Ich bin ziemlich erregt über dieses kurze Gespräch. Was war dieser Mann für ein Egoist gewesen. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, klopft es vorsichtig an der Tür und Herr Malik betritt mein Büro. Er bleibt vor meinem Tisch stehen und sagt: "Ich will es meiner Frau ja verzeihen, aber es ist zu spät, sie lebt in einer anderen Welt, sie versteht mich nicht mehr." Ich schaue ihm in die noch immer geröteten Augen und sage: „Richtig, das ist wohl zu spät ... aber die Möglichkeit, dass Sie bei ihren Töchtern um Verzeihung bitten, die besteht noch."
Herr Malik dreht sich langsam um und geht aus dem Zimmer.Sein Gang ist schleppend und müde. Einerseits tut er mir leid und anderseits bin ich ungehalten über sein Verhalten all die Jahre. Seine Frau und die Töchter hatten sicher viel Kummer deswegen.
Ich frage mich, ob er es schafft, morgen über seinen Schatten zu springen. Werden die Töchter bereit sein, ihm zu verzeihen?
Viele Gedanken kreisen in meinem Kopf. Ich stelle mir das Lager vor, die Gefangenen und deren heimliche Blicke zur schönen Oxana. Und ich sehe die Bilder, welche man aus den Medien kennt. Exekutioskommandos. Furchtbar. Und ich sehe die kleinen Mädchen, wie sie zu ihrem Vater hochschauen und sein Blick sich abwendet.
Es ist spät und ich fahre nach Hause, doch die Geschichte geht mir den ganzen Abend nicht aus dem Kopf.
Am nächsten Tag komme ich erst gegen Mittag an die Arbeit. In der kleinen Cafeteria hole ich mir einen Milchkaffee und sehe dann an dem kleinen Ecktisch Herr Malik mit seinen Töchtern sitzen. Ich gehe zu ihnen, um sie zu begrüßen und nach dem Befinden von Maria Malik zu fragen. Ich sehe, dass alle drei weinen und bekommen ein ungutes Gefühl.
Frau Malik wird doch nicht ...? Ich frage behutsam nach. Herr Malik setzt zum Sprechen an, doch seine Stimme versagt ihm. Die jüngere Tochter lächelt mich an und sagt mir schniefend, dass es ihrer Mama schon viel besser geht.
Ich schaue die drei erstaunt an und frage mich, warum sie denn weinen.
Herr Malik legt seine Hand auf die der Tochter und selben Moment verstehe ich die Situation.Ich verabschiede mich schnell von der Familie. An der Tür der Cafeteria drehe ich mich noch einmal zu ihnen um, möchte diesen schönen Moment noch einmal geniessen.
Herr Malik rührt seiner älteren Tochter gerade den Kaffee um und lächelt jetzt. Eine so rührendere Geste hab ich lange nicht gesehen… im wahrsten Sinne des Wortes. Frau Malik kommt nicht mehr in unser Haus zurück, sie stirbt einige Wochen später an einer Lungenentzündung. Die beiden Töchter haben ihren Vater weiterhin regelmässig besucht.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Friedhofsbank gesessen habe. Mir wird kalt und ich laufe in die Friedhofsgärtnerei und hole noch ein paar Blumen für das Ehepaar Johann und Maria Malik. Auf dem Nachhauseweg nehme ich mir vor, den beiden jedes Jahr am 13. Oktober Blumen mitzunehmen. Das vergesse ich ganz sicher nicht.
DonnaCarolina - 25. Okt, 19:29
Auch ich suche mir eine Bank und lass die Gedanken in die Vergangenheit gleiten wenn ich meine Mam auf dem Friedhof besuche. Am Montag wäre sie 88 geworden.